Frederic (geb. 1997)
"Wir sind einfach nur glücklich!"
Der kleine Säugling Frederic mit seiner Mutter
Sabine Jäger, Mutter von Frederic
Am Abend eines schönen Januarsonntags vor annähernd 24 Jahren, in der friedvollen Zeit zwischen den Feiertagen wurde unser erstes Kind, Freddi, gewünscht und sehnlich erwartet, geboren. Nach einer langen Phase der Ausbildung und Existenzgründung war die Zeit reif für die Familiengründung gewesen und mit der Geburt unseres Sohnes schien unser Glück perfekt. Nie hatte es in unser beider Leben größere Stolpersteine oder Hindernisse gegeben, eigentlich war alles immer nach Plan und wie erwünscht verlaufen. Noch benommen von der Freude der Geburt, brach jedoch ein Beben über uns herein wie wir es in unserem bisherigen Leben nicht erfahren mussten. Bevor wir unser Kind in die Arme schließen konnten, stand der Verdacht auf das Vorliegen einer Ösophagusatresie im Raum und nach kurzer Diagnostik wurde unser neugeborener Sohn vom örtlichen Kreiskrankenhaus in das nächstgelegene Universitätsklinikum verlegt. Keine zwölf Stunden nach seiner Geburt waren vergangen und er wurde schon zum ersten Mal operiert. Eine End-zu-End-Anastomose zwischen dem kurzen Speiseröhrenstumpf und einem langen engen Fistelkanal wurde hergestellt. Bereits operiert und noch beatmet, versorgt mit zahlreichen Zugängen und Infusionen, in der sterilen, geschäftigen Atmosphäre der Intensivstation der Kinderchirurgie, durfte ich unser Kind zum ersten Mal für längere Zeit sehen. Wie anders hatten wir uns doch den Start ins Leben für unseren kleinen Sohn vorgestellt! Dennoch, er sah so perfekt und wundervoll aus, dass es uns noch immer unbegreiflich schien, dass sein kleiner Körper eine solch ungewöhnliche Fehlbildung in sich trug. Verzweifelt suchten wir nach Antworten auf Fragen, für die es keine Antworten gab.
Es folgten tägliche Aufs und Abs, wiederkehrende Atmungs- und Lungenprobleme, hartnäckige Schwierigkeiten bei der oralen Nahrungsaufnahme, die schließlich gar nicht mehr gelang, und im Alter von 14 Tagen in einer zweiten, größeren Operation mit Anlage einer Witzel-Fistel (Magenfistel nach außen, beschickt mit einem Katheter) und Einlage von Bougierfäden mündeten. Alles begleitet von Sorgen, Ängsten und Kummer, die unser Leben bestimmten, Tag und Nacht. Die nächste Zeit auf der Intensivstation war beherrscht von Trinkversuchen und Dehnungsbehandlungen der Speiseröhre und erneuten Trinkversuchen und Dehnungsbehandlungen ... In den verzweifelten Stunden am Krankenbettchen fehlte mir tatsächlich die Vorstellungskraft dafür, dass diese Situation jemals enden und aus unserem geschundenen kleinen Wurm jemals ein fröhliches Kleinkind werden könnte. Es waren die Krankenschwestern, die uns damals auf KEKS aufmerksam machten. So erfuhren wir von anderen Eltern mit ähnlichem Schicksal und deren Schilderungen ihrer Erfahrungen und des Werdegangs ihrer Kinder verliehen uns in dieser Zeit oftmals Hilfe, Hoffnung und Zuversicht.
Nach einem fast dreimonatigen Klinikaufenthalt wurde unser Freddi erstmals nach Hause entlassen und wir entwickelten uns zu wahren Meistern in der Herstellung von Breien und Pürees verschiedenster Konsistenz. Neben unserer Praxistätigkeit war seine Nahrungsaufnahme ein zentrales Thema in unserem Alltag. Wegen wiederholter Verengungen im Bereich der Anastomose wurden leider weitere Bougierungsbehandlungen erforderlich und die Aufnahme von kleinstgeschnittener fester Nahrung gestaltete sich alles andere als altersgemäß. Regelmäßig versetzten uns Freddis Atemwegsinfekte oder „Steckenbleiber“ in helle Aufregung und legten bestehende Wunden und Ängste offen. Nichts davon jedoch vermochte den unerschütterlichen Optimismus oder die Lebensfreude unseres Buben zu erschüttern. Stets begrüßte er den neuen Tag mit einem Lächeln im Gesicht.
Dennoch hielt das Schicksal weitere Herausforderungen für ihn bereit: Als Winterkind liebt(e) er den Schnee. Im Alter von 8 Jahren wurde er im Skikurs von hinten von einem Snowboarder angefahren und erlitt einen knöchernen Kreuzbandausriss, der operativ versorgt werden musste. Die daran anschließende wochenlange Zeit mit Oberschenkelgips ertrug er in der 2. Klasse, von Unterrichtsbeginn bis -ende unbeweglich mit hochgelagertem Bein auf seinem Plätzchen sitzend, mit der ihm eigenen Gelassenheit.
Ein weiteres Unglück erschütterte unsere Familie und bedrohte sein kleines glückliches Leben im Alter von 10 Jahren. Eine atypische Lungenentzündung verschlimmerte sich dermaßen, dass er wieder auf die Universitäts-Kinderintensivstation überwiesen wurde, auf der er bereits die ersten 3 Monate seines Lebens verbracht hatte. Trotz aller Bemühungen dort erlitt er ein akutes Lungenversagen und musste – mit ungewissem Ausgang – forciert maschinell beatmet werden. Und wieder kämpfte er sich mit Hilfe von Ärzten und Schwestern, die ihn zum Teil sogar noch kannten, ins Leben zurück. Nachdem er nach zwei zermürbenden Wochen extubiert werden konnte, schob er, noch von der Entzugssymptomatik gezeichnet, zitternd, aber ungebrochen und kampfeslustig, die ersten Mahlzeiten in sich hinein, um wieder zu Kräften zu kommen.
Zu seinem großen Bedauern hatte er in der Zeit des künstlichen Komas die Abschlussfeier und Abschlussfahrt seiner Grundschule verpasst, aber im darauffolgenden Herbst konnte er auf das Gymnasium wechseln und durchlief dieses im G8-Zug als fleißiger und motivierter Schüler ohne Probleme bis zum Abitur. Gleich im Anschluss begann er ein Studium der Zahnmedizin an der Universität Marburg, das ihn sehr beanspruchte, aber auch Freude bereitete. Nun, im November 2021, hat er trotz aller Einschränkungen und Schwierigkeiten im Rahmen der Corona-Pandemie sein Studium ohne Verzögerung mit Erfolg abgeschlossen und darf sich – im Alter von 23 Jahren – Zahnarzt nennen! Wir alle, seine Eltern, Großeltern und seine beiden gesunden jüngeren Schwestern sind unheimlich stolz auf ihn – auf sein Durchhaltevermögen, auf seinen Zukunftsglauben und auf seine unnachahmliche Heiterkeit. Entgegen all meiner schlimmen Befürchtungen und Ängste während seiner Zeiten des Leidens haben sein unerschütterlicher Glaube an und sein Vertrauen in den guten Ausgang die Oberhand behalten. Wir sind dem Schicksal, der modernen Medizin und vielen Wegbegleitern zu immerwährendem Dank verpflichtet und wissen um unser Glück. Und wenn die seltene Erkrankung unseres Sohnes einen Sinn gehabt haben sollte und uns etwas gelehrt hat, dann die Tatsache, dass wir ein gesundes Leben nie wieder als Selbstverständlichkeit, sondern immer als Geschenk annehmen, dass wir die kleinen Freuden noch bewusster wertzuschätzen wissen und dass wir noch dankbarer sind für all das Gute, das uns im Leben widerfährt.
Frederic (links) mit seinen beiden jüngeren Schwestern
Frederic (links) der "Große Bruder" mit seinen beiden jüngeren Schwestern.
Frederic (links) mit seiner Prüfungsgruppe nach bestandener Prüfung (Zahnmedizin) vor dem Klinikum Marburg im November 2021